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Mit anderen Augen: Trau-Zeuge Jochen Kalka auf der Digitalmarketingmesse

Vorsicht, Glosse!

Lange habe ich überlegt – und das ist per se schon eine Seltenheit – was mit diesem überraschenden Slogan der diesjährigen Dmexco gemeint sein könnte- Trust in You! Wer vertraut hier wem nicht? Die Dmexco ihren Gästen nicht: Klaut keine Computer, Kekse, Katzenfutter? Werden deshalb die Gäste am Ausgang durchsucht? Ach ne, am Eingang. Vielleicht aus dem Grund, dass Gäste womöglich heimlich Cookies einschleusen wollen? Oder wie ist das gemeint, mit dem Vertrauen. Kann man nur noch sich selbst vertrauen, in dieser heuchlerischen Welt? Egal, ich traue mich auf die Dmexco, weil ich mir traue. Wow, wenn 40.000 Menschen auch so denken, wie erbärmlich ist das denn?

Klar hat die Messe in diesem Jahr endlich alles richtig gemacht. Kurze Wege, gut gekühlte Räume, keine Schlangen mehr vor den Damentoiletten. Durchschaut, ich war wohl nicht da. Oder bin nicht mehr ganz richtig. Doch, ich war richtig, richtig auf der Dmexco. Der Veranstalter unter dem neuen Musical-Star Dominik Matyka hat einen verdammt guten Job gemacht. So gut, dass man kaum einen Rant schreiben könnte, wäre nicht Köln. Und die merkwürdige Messe. Wieso Musical-Star? Na ja, hab ich auch nicht so richtig verstanden. Am Ende sangen Sänger, eigens eingeflogen aus den USA, fesselten Joko Winterscheidt und suchten den Mörder. Hä? „Who killed Dominik Matyka?“ war der Name des Musicals, ein laut FAZ ziemlich aufwändiger Werbespot, mit dem das New Yorker Technologieunternehmen Yext seine neue Suchmaschine vorstelle. Ihr denkt, ich spinne? Nein, diesmal sind es echt die anderen, gell Dominik?

Über diese und andere Inhalte schreiben die lieben Kollegen von W&V und Horizont, über das Inhaltslose schreibe ich auf vielfaches Drängen der Branche. Was gegen mich und gegen die Branche spricht. Aber das ist ein anderes Thema.
Was für mich nach so vielen Jahren Dmexco nicht verständlich ist: Früher, als alles schlechter war, war das Messegelände direkt neben dem Bahnhof, der den Namen „Messe Deutz“ trägt. Nun weiß ich nicht, was die Messe Deutz sein soll, mit der Nähe des Messegeländes, auf dem die Dmexco stattgefunden hat, hat das nicht viel zu tun. Immerhin hat die Messe ihren sogenannten Südeingang für die Besucher geöffnet. Das vermittelt den Eindruck, dass man, wenn man mit dem ICE eingetroffen ist, nach einem kleinen waghalsigen Spaziergang an einem komplett überfüllten S-Bahn-Gleis in der Nähe des Einganges ist. Das Stehen im Schlamm wurde leider abgeschafft, wir erinnern uns, der einstige Shuttle kam gepflegt auf geteertem Terrain. Nun darf man Deutschlands steilste Treppen erklimmen, mit Koffer. Hier muss die Kinderwagenszene des Klassikers Panzerkreuzer Potemkin gedreht worden sein. Wer vorher nicht zufällig die Zugspitze zu Fuß erklommen hat, als Training, oder wenigstens die bequemen Treppen des Kölner Doms mal erprobt hat, konnte es womöglich nie bis zum Eingang schaffen. Wer also den riskanten Gleis-Walk überlebt hatte, konnte hier scheitern.

Nächste Hürde war nicht die völlig unsinnig gebaute Brücke zum Eingang, die im wahrsten Sinne des Wortes ums Eck gedacht ist. Dann konnte man friedlich zwischen diversen Messehallen schlendern, um 6 Stunden später auf der Dmexco einzutreffen. Gut, dass es dazwischen Sportschuhhändler und Fußmassagen gab, wer das Glück hatte, zu Pferd unterwegs zu sein, konnte die Gäule unterwegs mehrfach wechseln. Im Ernst: Wer das Verbrechen verantwortet hat, die Messe in Köln zu bauen, muss ein Verwandter des Berliner Flughafenbaus sein und von Stuttgart 21. Wer denkt sich aus, kilometerlang so zu tun, als wären links und rechts lauter leere Hallen. Wer denkt sich aus, keinen Weg zu bauen, der einfach geradeaus geht? Wer denkt sich aus, zwischendurch Treppen nach oben und unten einzubauen? Um dann ganz am Ende der endlosen Hallen die Messe einzurichten? Das denke ich mir bei fast jedem Flughafen auch, dass die Flughafenarchitekten bei ihrem Bauwahn jedes Mal vergessen, dass zwischen den Rohren und Gepäckbändern noch Menschen unterwegs sind, für die dann diese irrwitzigen Wege gebaut werden. Wie in der Kölner Messe eben.
Vermutlich sind die ersten Hallen nur Kulissen, damit sich Köln opulenter gibt. Die Stadt, die als einzige nicht das metrische System eingeführt hat, sondern in Armlängen rechnet. 7200 Armlängen ist der Marsch vom Eingang bis zur eigentlichen Dmexco. Zwölf Kölsch sind eine Armlänge – nebeneinander freilich. Aber der Weg hat sich gelohnt. Wohl dem, der genügend Pflaster dabei hatte. Wer nächstes Jahr Pflaster auf einem Stand verkauft, wird mehr Umsatz machen, als Google in einem Quartal in Kleindingharting.

Die Aussteller, super. Das Programm, super. 51 Prozent internationale Gäste, super. 35 Prozent weibliche Speaker, super. Alles richtig gemacht, Dominik. Kein Spaß, dies sind die einzigen ernsten und ernstzunehmenden Zeilen!
Was diesmal auffiel, dass alles hinfiel. Die Schwerkraft in diesen Hallen relativierte sich. Ständig flogen Menschen durch die Gänge. Nächstes Mal sollte die Helmpflicht eingeführt werden. Das Menschenfliegen kann man lustig finden, solange man Zuschauer ist. Ich fand es lustig. Ob es diesmal mehr Schwellen gab oder sonstige Fallen? Keine Ahnung, jedenfalls stolperte sich das Publikum slapstickartig durch die Digitalwelten. In Halle 6, dort, wo mit Abstand am meisten los war, wurden sogar absichtlich Stolperfallen eingebaut, in Form von überraschenden Sitzgelegenheiten, vielleicht waren das aber auch nur Stromkästen, Köln halt. Der Vorteil, der sich daraus ergab: Es gab im wahrsten Sinne des Wortes hier und da Haufen von Menschen. Fotogen.

Wer Aussteller war und auf die Idee gekommen ist, einen Tag vor der Messe schon etwas aufzustellen, muss auch Spaß gehabt haben. Den Legenden zufolge fuhr man auf einen riesigen Parkplatz, um zu merken, dass man einen Parkausweis braucht, wozu man wieder zurück zur Einfahrt musste, um dort eine Kaution zu hinterlegen: in Form von Bargeld. Sollte jemals das Bargeld in ganz Deutschland, in ganz Europa und in aller Welt abgeschafft sein, weil wir endlich alles digital bezahlen können, Köln wird das Bargeld beibehalten. Wahrscheinlich wird es dann umbenannt: Kaution kostet künftig 3 Kölsch fünfzig.
Wenn wir gerade bei Spaß sind: Erstmals konnte man die Messe nur betreten, wenn man sich die Dmexco-App zwangsheruntergeladen hatte. Das brachte nicht nur Freunde. Doch die App war gar nicht so übel. Theoretisch konnte man gegenseitig Namensschilder scannen, Seminare finden und die entsprechenden Räumlichkeiten. Wirklich besser als der Hallenplan, der immer noch parallel auf Papier verteilt wurde und gefühlt 3 Kilo wog. Wer den Hallenplan ernsthaft auseinanderfaltete, startete damit in der jeweiligen Halle eine Installation wie von Verpackungskünstler Christo.
Leider konnte man sich mit der App nicht für Seminare anmelden. Wer Gäste in eigenen Seminaren begrüßen wollte, musste eigene Gästelisten einrichten. Etwa auf Papier. Um ganz sicher zu gehen, dass die Gäste auch Platz bei eigenen Seminaren bekamen, empfahl es sich, Handtücher auf den Stühlen auszulegen. Aber darin sind wir ja Weltmeister, weit über Köln hinaus. Nicht neu war, dass sich Unternehmen, die Seminare halten wollten, gegen Knete natürlich, sich bewerben mussten und: Daumen drücken!

Mein persönliches Highlight war ein Gang zur Toilette, der versehentlich live in alle Welt gestreamt wurde. Von dem Typen neben mir. Aber ich traue ihm. Hoffentlich traut er sich selbst. Und hoffentlich traut er sich nicht zu viel. Was auf der Dmexco auch Spaß macht: Menschen zuzuhören. „Die Messe stirbt, ne?“, sagte einer, „nächstes Jahr komm ich nicht mehr“. Antwort seines Gegenübers: „Ach, hingehen werde ich schon. Kommt man mal raus!“

So bin auch ich froh, mal rausgekommen zu sein. „Die Dmexco steht für umfassenden Dialog“ begründet die Messe solche Aussprachen. Dmexco, Köln, wir hatten einen umfassenden Dialog und kommen 2020 wieder. Am 23. und 24. September.

Von Jochen Kalka